Der Alte Wald

01

„Lauf! Verdammt! Lauf!“ Doch sie wird nicht schneller. Nein, sie wird sogar langsamer! Und bleibt stehen! Nach Atem ringend bleibe auch ich stehen. Ich beuge mich vor und stütze meine Hände auf meine Knie.

Keuchend stößt sie hervor: „Sie haben Pferde…“ – ein lautes Einatmen – „wir können ihnen nicht davonlaufen.“ „Ich bin offen für andere Vorschläge!“ schreie ich ihr schon fast entgegen. Immer diese Klugscheißerei! Als wär mir nicht aufgefallen, dass die Pferde haben. Verdammt… „Also was dann?“ frage ich sie immer noch keuchend.

„Wir müssen uns verstecken. Ich kann nicht mehr laufen.“ Erst da fällt mir auf wie pfeifend ihr Atem geht. Verdammt… sie hatte noch nie eine gute Ausdauer. Also verstecken, aber wo?

Sie zuckt plötzlich zusammen und keucht: „Sie kommen!“ Also dann weg von hier, denke ich und packe sie am Arm. Ich zerre sie hinter mir her als ich zu der einsamen Scheune hinüber laufe.

„Doch nicht dort hin! Hast du nun ganz den Verstand verloren? Da suchen sie uns als Erstes!“ Wütend zerrt sie sich los und schaut sich um. „Da lang,“ meint sie und beginnt in Richtung des Waldes zu laufen.

„Bist du wahnsinnig? Der Wald ist gefährlich!“ Ich folge ihr trotz meines Widerwillens.

„Das sind die Reiter da hinten auch. Vielleicht haben sie auch Angst vor dem Wald. Zumindest gibt es da drin Tausende Verstecke und nicht nur ein einziges offensichtliches.“

Schon wieder diese Klugscheißerei. Wie das nervt, vor allem weil sie ja recht hat. Oh ihr Götter ich bin nun mal kein Denker, ich bin doch nur ein Stallbursche.

Langsam kommen die Hufgeräusche näher, doch auch der Wald kommt immer näher. In der Dunkelheit ist der Wald nur eine schwarze Wand vor uns. Sie geht hinein und die Finsternis verschluckt sie. Erschrocken rufe ich leise nach ihr und laufe ihr nach.

„Was ist los? Sind sie so nah?“ fragt sie weil sie meinen Schrecken missversteht. Ich antworte nicht sondern nehme sie wieder am Arm und wir gehen tiefer in diese Dunkelheit. Nicht einmal unsere guten Augen helfen uns hier drin. Ich höre sie leise aufschreien als ein Ast ihr Gesicht streift. Im nächsten Moment schnellt der Ast mir aufs Ohr. Autsch, das tut weh. Ich fühle wie Blut an meinem Hals runter rinnt. Ich greife nicht hin, ich brauche jetzt keine von Blut klebenden Finger.

Hinter uns wird das Hufgetrappel lauter. Wir beschleunigen unsere Schritte. Sie sucht mit ihrer Hand nach der meinen. Sie zittert oder bin das ich? Ich weiß es nicht. Aber ich habe Angst. Was die Kerle im Gasthof getan haben… Nein! Daran darf ich jetzt nicht denken. Wir werden ihnen entkommen. Langsam werden die Geräusche hinter uns wieder leiser.

„Sie sind im Wald,“ flüstert sie. Fast nur ein Hauchen, doch klingt es mir ewig laut in den Ohren. Statt einer Antwort drücke ich ihre Hand und überhole sie. Jetzt ziehe ich sie wieder hinter mir her. Es wird ein wenig heller, der Mond ist hinter den Wolken hervorgekommen. Ich laufe nicht mehr gegen Äste und stolpere nicht mehr über Wurzeln. Sofort beschleunige ich. Ich möchte viel, ganz viel Abstand zwischen uns und die Reiter bringen.

„Hierher! Sie sind tiefer in den Wald hinein!“ Die laute Stimme schreckt alle möglichen Tiere auf. Vögel fliegen zwitschernd auf. Eine Nachtigall lässt ein empörtes Konzert auf den Rufer herniedergehen. Dann wird es wieder ruhiger. Und dann höre ich nur mehr wie Hufe auf weichen Waldboden auftreten. Oh ihr Götter, sie sind direkt hinter uns. Sie drückt meine Hand so fest, dass es schmerzt. Ich will davon laufen. Aber ich wage es nicht! Keine schnelle überstürzte Bewegung!

Ich ziehe sie hinter einen Baum und sie drückt sich eng an mich. Durch unsere dünnen Kleider fühle ich ihren Herzschlag. Ihr Herz schlägt noch schneller als meines! Langsam und ganz vorsichtig spähe ich um den Baum herum nach hinten. Dort ist ein großer Schatten. Ein Reiter auf einem Pferd. Sein Schwert reflektiert das Mondlicht. Das Pferd wiehert. Der Mann hat einen schwarzen Vollbart. Schweißperlen funkeln in seinem Gesicht. Seine dunklen Augen schauen genau in meine.

Ich zucke zurück. Der Mann ruft „Ich hab sie!“ und gibt dem Pferd die Sporen. Ich höre wie das Pferd sich aufbäumt und fühle die Erschütterung als die Vorderhufe auf den Boden aufkommen. Ich will nach links und zerre sie mit. Sie ist starr vor Angst und murmelt etwas vor sich hin. Ich verstehe sie nicht. Dann lässt sie meine Hand los! Nein! Wir müssen laufen!

Ich blicke zurück. Sie steht aufrecht mitten zwischen den Bäumen. Der Reiter kommt auf sie zu! Sie bewegt sich nicht! Noch immer hör ich ihr Murmeln. Betet sie? Ich sehe wie der Mann das Schwert hebt,  sehe wie sie die Hand hebt. Lauf doch! Ein Schrei bahnt sich den Weg aus meiner Kehle:

„Nein!“

02

Ich sehe wie der Mann das Schwert hebt. Ich sehe wie sie die Hand hebt. Lauf doch! Ein Schrei bahnt sich den Weg aus meiner Kehle: „Nein!“

Dann fährt ein Blitz aus dem Nichts vom Himmel. Donner rollt durch den Wald. Alles ist plötzlich grell und hell und laut. Ich falle auf die Knie! Mit geschlossenen Augen und mit den Händen die Ohren zuhaltend, knie ich da. Ich höre nichts, sehe nur weiß. Oh ihr Götter stöhne ich. Da bemerke ich, dass ich wieder höre. Und ich höre viel zu viel! Rufe von Reitern! Ich mache die Augen wieder auf, doch sehe ich anfangs immer nur noch weiß. Langsam wird die Welt wieder dunkler. Da liegt etwas direkt vor mir. Ich krieche darauf zu. Ist das? – Nein! Das kann nicht sein.

Meine Hände berühren ihr Kleid. Sie liegt ausgestreckt am Waldboden. Meine Hände fahren hoch zu ihrem Kopf. Ihre Brust bewegt sich! Sie atmet! Langsam öffnet sie die Augen und blinzelt.

„Was ist passiert?“ Ich schau sie nur erleichtert an. Ich kann nicht antworten. Der Blitz hat doch genau dort wo sie gestanden ist eingeschlagen. Oder etwa nicht? Ich bin mir nicht sicher was ich gesehen habe. Ich schaue sie von oben bis unten an. Keine Brandspuren.

„Kannst du aufstehen?“ frage ich sie anstatt ihr eine Antwort zu geben. Langsam, mit meiner Hilfe, steht sie auf. Dann erstarrt sie. Sie schaut an mir vorbei, dahin wo vorhin der Reiter war. Verdammt! Ich habe versucht es zu ignorieren, den Geruch nach verbranntem Fleisch. Doch jetzt muss ich wohl hinschauen. Langsam drehe ich mich um.

Das erste was ich sehe ist ein Schwert, welches am Boden liegt. Einfach so. Ganz friedlich. Die Klinge ist sauber und liegt zwei Meter entfernt von dem dunklen rauchenden Haufen. Oh ihr Götter! Da steigt wirklich Rauch auf! Als nächstes nehme ich die weit aufgerissenen Augen des Pferdes war. Blut rinnt aus beiden Augen. Langsam, ganz langsam blinzelt das Tier. Es lebt noch! Oh ihr Götter! Warum muss das mir passieren? Langsam fährt mein Blick über das schwer verletzte Pferd hin zu dem Mann, der daneben liegt. Ein Bein unter dem Pferd eingeklemmt. Ein Blick und ich wende mich ab. Sein Gesicht ist schwarz, seine Augenhöhlen leer. Blut und was auch immer verdreckt seinen Bart. Er rührt sich nicht mehr. Der Blitz hat direkt ihn getroffen.

Ich nehme wieder ihre Hand und zerre sie weg. Dann bleibe ich stehen, drehe um und hebe das Schwert vom Boden auf. Es ist zu schwer, aber ich habe sonst keine Waffe. In der Rechten das Schwert, greife ich mit der Linken nach ihrer Hand. Ohne Widerstand trottet sie hinter mir her. Ihr leerer Blick macht mir Sorgen. Sie hat seit dem Anblick nichts mehr gesagt. Sie läuft einfach hinter mir her….

Doch ich weiß nicht wohin ich laufen soll. Also einfach tiefer in den Wald hinein. Das Rufen der Reiter wird leiser. Ein Hornsignal dröhnt durch den Wald. Das ist das Signal mit dem die Jäger zum Sammeln rufen: „Sammelt euch! Sammelt euch! Danach wird es ruhig im Wald. Und dann beginnen die Geräusche der Nacht mich zu erschrecken. Grillen zirpen, ein Tier springt über mir von Ast zu Ast, eine Krähe krächzt nicht weit entfernt. Bei jedem Geräusch zucke ich zusammen. Sie hingegen ist ganz stoisch. Sie reagiert auf nichts, nur auf mein Ziehen an ihrer Hand.

So gehen wir. Wie lange? Ich weiß es nicht. Immer tiefer hinein in den Alten Wald. Dass er gefährlich ist, habe ich gehört. Doch mir fällt nicht mehr ein welche Gefahren hier drin waren? Goblins? Monster? Verdammt! Ich hätte mal den Geschichten von Rotbart zuhören sollen, anstatt mich mit Fragen auf die Händler aus der Ferne zu stürzen! Immer haben mich die Geschichten von woanders mehr interessiert. Das habe ich nun davon. Bin in einem gefährlichen Wald und weiß nicht einmal warum der Wald gefährlich ist. Oder wo genau ich bin.

Langsam werde ich müde. Ich kann nicht mehr weitergehen. Ihr ergeht es nicht anders. Sie hebt kaum noch die Füße beim gehen sondern schleift sie über den Waldboden.

Also halte ich Ausschau nach einem Lagerplatz. Keine Ahnung was ein Lagerplatz haben soll. Hmmmm… Wasser, ja Wasser wäre gut. Erst beim Gedanken an Wasser fällt mir auf, dass ich fast schon verdurstet bin. Ich bleibe stehen und lausche in den Wald hinein. Ich höre ihre abgehackten Atemzüge, den Ruf einer Eule, leises Rascheln der Blätter über mir und das Plätschern von Wasser. Nach wenigen Minuten haben wir das Rinnsal erreicht und ich knie mich hin und halte meine Hand in den kalten kleinen Bach. Naja Bach…. Es reicht um meine Zehen nass zu machen, aber mit einem einzigen Schritt ist der Bach überquert. Ich trinke und es fühlt sich einfach göttlich an. Auch sie kniet sich hin und trinkt. Ihre Augen sind wieder etwas klarer.

„Wie geht es dir?“ frage ich. Sie denkt über meine Frage nach und antwortet: „Geschockt, aber zu müde um länger darüber nachzudenken.“

Ich schaue mich um und sehe zwei Felsbrocken am Fuß eines kleinen Hügels. Zwischen den Felsbrocken ist genug Platz für uns beide. Ich zeige ihr die Stelle. „Da werden wir schlafen.“

Wir trinken noch ein paar Schlucke und gehen zu der stelle hinüber. Die Felsbrocken sind glatt gehauen und auch die Seite des Hügels ist glatt gehauener Stein. Ich bin froh darüber. Jetzt haben wir harten und schutzbietenden Fels hinter uns und seitlich von uns. Nur nach vorne und nach oben ist dieser Unterschlupf offen. Besser geht’s wohl kaum.

Sie kriecht zwischen die Steine, legt sich hin und schläft ein. Ich schaue mich noch ein letztes Mal um und erkenne im schwachen ersten Morgenlicht gerade Linien am Hügel über uns. Muss wohl eine Ruine sein. Ich werde sie später erkunden. Jetzt erst einmal schlafen. Ich krieche ebenfalls zwischen die Steine, schmiege meinen Rücken an ihren Rücken und döse langsam ein.

Hmmm… Ruinen im Alten Wald, die Goblins können es nicht sein, weil die bauen ja nicht aus Stein…. Hmmm… es gibt da diese Geschichte. Über Feen im Alten Wald. Aber das ist doch nur eine Geschichte.

03

Marton stand auf dem Hügel und blickte hinab auf das Meer aus Bäumen vor ihm. Von hinten trat Frien neben ihn.

„Der Hauptmann wird nicht glücklich sein, dass wir die beiden verloren haben, Marton.“

„Pfff… Wir haben niemanden verloren. Die sind tot.“

Frien zog eine Augenbraue fragend hoch: „Tod?“

„Ja natürlich oder hast du schon mal von wem gehört der den Alten Wald überlebt hat?“

Gereizt schlug sich Marton auf den Arm um eine Mücke zu vertreiben. Langsam wurde der Geruch nach gebratenem Fleisch stärker. Er warf kurz einen Blick über die Schulter zum Lagerfeuer. Dort saßen Ebbo, Sumi und Lirk beim Feuer und kümmerten sich um die Spieße mit den Fleischstücken dran. Hinter ihnen standen die Pferde mit lockeren Seilen an einen einzelnen Pfosten gebunden so dass sie grasen konnten.

Als Marton seinen Blick wieder Richtung Wald wandte, streifte er kurz die Rauchsäule im Süden.

„Die beiden sind nur durch Zufall vom Gasthof entkommen. Aber im Alten Wald gibt es keine Zufälle. Den überlebt niemand.“

Frien spuckte aus und schaute auch kurz zur Rauchsäule rüber. „Nach dem Essen reiten wir zurück?“

Marton nickte. „Gut. Aber wie erklären wir dem Hauptmann was mit Ken passiert ist?“ Mit leicht besorgtem Blick schaute Frien den größeren Marton an. Dieser erwiderte mit einem Zucken seiner breiten Schultern: „Was soll passiert sein? Ein Blitz hat ihn getroffen.“

„Es war aber eine sternenklare Nacht und keine Wolke stand am Himmel!“

„Na und? Der Alte Wald braucht keine Wolken für Blitze.“

„Tolle Antwort. Das darfst du dem Hauptmann so erklären.“ Unzufrieden vor sich hin murmelnd ging Frien wieder zurück zum Lagerfeuer und Marton starrte wieder auf den Wald hinaus. Der Alte Wald hat schon seltsameres getan als Leute mit Blitzen aus heiterem Himmel zu erschlagen. Seufzend wandte sich Marton ab und ging ebenfalls zum Lagerfeuer.

Ebbo reichte ihm einen Spieß und ein Stück Brot. „Nach dem Essen retour zum Gasthof?“

Nickend begann Marton ein großes Stück Fleisch mit den Zähnen vom Spieß zu reißen. „Mmhmm. Ja ich glaube, dass wir hier draußen alles erledigt haben.“ Mit vollem Mund sprechend schaute er in die Runde. „Ich werde dem Hauptmann erklären was mit Ken passiert ist und dass die beiden nie wieder aus dem Wald rauskommen werden.“

Erleichtert wandten sich die anderen ihrem Essen zu. Keiner wollte dem Hauptmann unter die Augen treten bei der aktuellen Lage der Dinge. Doch einer musste es tun.

Sie aßen schweigend, gelegentlich schmatzend oder rülpsend bis Fleisch und Brot fertig waren. Frien reichte seinen Bierschlauch die Runde und jeder nahm einen großen Schluck. Es war billiges Bier und es war warm, aber besser als das abgestandene Wasser in ihren Wasserschläuchen.

Danach packten sie ihr Zeug zusammen, sattelten die Pferde und ritten zum Gasthof hinab.

Genauer gesagt ritten sie dorthin wo bis gestern noch der Gasthof Brückenwacht stand. Jetzt war dort nur mehr eine ausgebrannte noch rauchende Ruine. Daneben stand aber noch die Schmiede. Marton und die anderen hatten nicht viel vom Gasthof gesehen letzte Nacht. Sie waren in gutem Abstand zu den Gebäuden gewesen als dort Feuer gelegt wurde. Es war ihre Aufgabe Flüchtlinge abzufangen.

Und genau dabei hatten sie versagt! Denn die beiden sind entkommen! Und nicht nur dass, nein, sie hatten auch noch einen Mann verloren. Langsam verließ Marton seine Selbstsicherheit. Als er dem Gasthof nahe genug war um den Baum daneben zu sehen, musste er schlucken. Der Baum trug menschliche Früchte. Er konnte nur hoffen dass Hauptmann Ealfric letzte Nacht genug Leute umgebracht hatte um vorerst besänftigt zu sein. Ansonsten würde Marton vermutlich die nächste Frucht am Baum sein.

„Schaut mal da!“ Ebbo deutete beim Reiten Richtung Süden. Dort waren Reiter auf der Brücke, Reiter in Blau und Rot des Königs! Sofort hielten Marton und seine Gefährten an. Vor sich sahen sie wie beim Gasthof hektische Bewegung entstand und schon einen Moment später ritten Hauptmann Ealfric und ihre Gefährten Richtung Norden davon. Marton gab seinem Pferd die Sporen um aufzuschließen.

Die Reiter des Königs verfolgten sie nicht. Sie blieben beim niedergebrannten Gasthof zurück während vorne Hauptmann Ealfric fluchte: „Wo kommen diese Verdammten Königsmänner her?“

Da keiner ihm antwortete, schlug er sein Pferd mit der Reitgerte  uns spornte es mit einem unartikulierten Schrei noch weiter an. Marton war erleichtert, denn sein Bericht musste noch warten.

04

Etwas kitzelt meine Augenlider, doch ich möchte die Augen nicht aufmachen. Doch das kitzeln hört nicht auf  und so öffne ich doch die Augen. Ein Schmetterling flattert davon. Überrascht schaue ich dem Schmetterling nach und wundere mich wie der in meine Kammer kommt. Doch dann fällt mir alles wieder ein. Ich bin nicht in meiner Kammer sondern wir sind letzte Nacht geflohen. Ja wir sind in den Alten Wald geflohen und liegen nun hier am Fuß eines Hügels.

Langsam richte ich mich auf und blicke mich um. Er murmelt leise im Schlaf, rührt sich aber sonst nicht. Mit ein paar Schritten verlasse ich den Unterschlupf zwischen zwei Steinen und gehe zum Bach hinüber. Dort ziehe ich meine Schuhe aus und lege meine Füße in das kalte nass. Dabei blicke ich hinauf zum Hügel. Da ist ja eine Ruine. Ohje… Wohin hast du uns denn da geführt? Nachdem ich mein Gesicht gewaschen habe, bemerke ich die vielen Schmetterlinge rundherum auf der Wiese. Sie flattern fröhlich über dem Wasser und schillern in allen Farben. Bei dem Anblick vergesse ich fast was gestern alles geschah. Doch eine Frage quält mich ganz besonders: Woher kam der Blitz.

Ich erinnere mich daran zu Larelia gebetet zu haben. Ich bat sie um Wissen über Pferde und Reiter und wie man bewaffnete Männer auf Pferden in einem dunklen Wald los wird. Bei diesem Gedanken muss ich auflachen. Ich hab das wirklich so gesagt. Doch es fühlte sich gestern einfach nicht lächerlich an sondern richtig. Ob Larelia oft so ungeschliffene Gebete hört? Rotbart und die Reisenden haben von großen Tempeln erzählt in denen man die Götter in heiligen Messen verehrt, von Gottesdiensten draußen auf den Feldern oder in heiligen Hainen. Doch das sind alles Rituale, nein Zeremonien hat ein Reisender das genannt und ich habe nur ein paar Worte in meiner Angst hin gestammelt. Nun gut, es lässt sich nicht mehr ändern, aber ich sollte es in Zukunft besser machen.

Aber egal wie unzulänglich mein Gebet auch war, plötzlich fühlte ich mich… ich weiß nicht genau…. Geborgen? Beschützt? Behütet? Irgendwas in der Art war es. Eine Wärme breitete sich in mir aus und aus irgendeinem Grund hab ich die Hand vorgestreckt. In der Hand in der ich den Kreis mit der Feder hielt. Und dann war da der Blitz, blenden grell und seine Wucht riss mich von den Beinen. Doch ich fühlte den Blitz schon einen kleinen Sekundenbruchteil früher. Ich fühlte wie eine Kraft durch mich fuhr und aus meiner Hand schoss. Habe also ich den Blitz ausgelöst?

Die Leute haben viele Geschichten von Magiern erzählt und von mächtigen Klerikern und ich hab auch schon welche gesehen. Ein Kleriker hat damals Sarahs Bein geheilt nach ihrem Sturz von der Leiter und ein Magier hat uns Tricks gezeigt als wir kleiner waren. Hab ich also Magie gewirkt?

Nein, das kann nicht sein. Magier müssen jahrelang studieren, Bücher wälzen und in verstaubten Bibliotheken alt und grau werden bevor sie etwas bewirken können. Und Kleriker müssen ihrem Gott beweisen wie sehr sie ihn verehren. Sie müssen ihm jahrelang dienen bevor sie ihre ersten Wunder wirken können. Also kann ich es nicht gewesen sein. Doch wer dann.

Mein Blick fliegt rüber zu ihm. Er schläft noch und rollt sich hin und her. Scheinbar träumt er wieder einmal sehr lebhaft. Aber er wird sich nach dem Aufwachen nicht an die Träumer erinnern, das tut er nie. Hat er den Blitz gewirkt? Manchmal geschehen seltsame Dinge um ihn rum. Er merkt es meistens nicht, aber er kann kaltes Essen wieder warm machen, das Bier kälter machen, unruhige Pferde beruhigen und noch einige andere kleine Dinge mehr. Allen ist aufgefallen, dass er irgendwie magisch ist und letztes Jahr hat ihm das sogar ein Magier aus einer fernen Stadt gesagt: „Du hast Magie in dir Junge. Du könntest diesen Ort verlassen und eine Schule für Magier aufsuchen. Dort würdest du viel über die Geheimnisse der Welt und der Magie erfahren.“ „Alle Geheimnisse?“ fragte er und der alte Magier lachte auf. „Nein, alle kann niemand lernen. Nicht einmal ein uralter Elf kennt alle Geheimnisse der Welt und der Magie. Aber einiges an Wissen könntest du dort von seiner geheimnisvollen Ummantelung befreien.“

Er lehnte ab und ließ sich von dem Magier nur einen kleinen Trick zum Kerzen anzünden zeigen. Was hätte ich nicht alles dafür gegeben an seiner Stelle zu sein! Geheimnisse aufdecken, Wissen aufsaugen, neues erfahren, die Welt sehen! Dafür hätte ich sehr viel aufgegeben. Doch er ist zufrieden als Stallbursche.

War zufrieden sollte ich wohl sagen, denn den Stall gibt es nicht mehr. So wie es Rotbart nicht mehr gibt und den starken Xelvin nicht mehr. Und auch die anderen sind vermutlich alle tot. Ermordet von den Reitern, die gestern Abend zum Gasthof kamen. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Weinen bringt jetzt nichts, das hat noch nie jemanden geholfen.

Da sehe ich wie er auf mich zukommt. Langsam und ganz vorsichtig. Jeden Schritt wiegt er ab und sein Blick ist auf etwas hinter mich gerichtet. Hinter mir? Da höre ich ein lautes Atmen. Es klingt als käme es von einem großen Tier. Ich erstarre und wage es nicht mich zu drehen. Er hat das Schwert in der Hand, welches er dem Reiter gestern abgenommen hatte. Fast ist er bei mir, er streckt seine freie Hand nach mir aus:

„Komm langsam zu mir und schau nicht zurück.“

05

Meins. Gier. Hübsch. Will haben. Will Dinge tun. Wird Mutter werden.

Langsam bewegen sich seine Gedanken als er die Frau beobachtet. Sie hat ihn nicht bemerkt, denn sie schaut verträumt einem Schmetterling nach. Sie sitzt da an seinem Bach und wartet. Sie wartet auf ihn. Und er ist da. Er wird sie nehmen, er will sie haben. Sie wird seine Kinder gebären.

Sie hat ihn immer noch nicht bemerkt. Langsam und vorsichtig nähert er sich ihr. Die große Axt hält er locker in den Händen. Das weiche Gras dämpft die Geräusche seiner Hufe. Er ist fasziniert vom Anblick ihrer nackten Füße im Wasser, ihrem Hals an dem das Wasser in den Saum ihres Kleides rinnt. Er schaut begierig auf die leichte Wölbung ihrer Brüste und ihrer Hüfte. Sie ist schlank, es wird ihr weh tun. Der Gedanke gefällt ihm. Er hat nicht viel Fantasie, doch er kann sich vorstellen wie sie schreit. Sie hat die Augen geschlossen und den Kopf leicht seitlich gedreht. Er beobachtet ihren Mund, die zarten schmalen Lippen. Er bemerkt ihre leicht spitzen Ohren. Elfenblut, das freut ihn ganz besonders. Seine Gier wächst. Er spürt wie sich seine Lenden regen.

Er geht noch einen Schritt. Jetzt kann er sie riechen. Wald, feuchte Haut und Schweiß nimmt er wahr. Der Geruch erregt ihn noch mehr. Langsam beugt er sich vor. Mit schweren Atemzügen saugt er ihren Geruch ein, während sich seine Körpermitte regt. Er freut sich. Es ist Zeit.

Da hört er eine Bewegung von den Felsen her. Das Männchen ist aufgestanden und starrt ihn mit großen Augen an. Es hat ein Schwert, doch es hat Angst. Er kann die Angst riechen. Er zieht die Lippen hoch und zeigt dem Halbelfen seine Zähne. Er wird das Männchen zuerst töten. Das wird sein Vergnügen noch steigern. Seine Lust vergrößern. Ob sie wohl ihm gehört? Vielleicht ist sie dankbar, wenn er sie von ihm befreit? Freudig hebt er die Axt.

Der Halbelf hat das Schwert erhoben und sagt etwas zur Frau. Diese hat ihn bemerkt und war nun erstarrt. Endlich hat sie ihn wahrgenommen. Ob sie auch schon so erregt ist wie er? Das Männchen streckt seine Hand zu ihr aus und sie greift danach. Sie steht auf und er zieht sie rasch hinter sich.

Nein!!! Mit lautem Brüllen richtet sich der Minotaurus zu seiner vollen Größe auf und schwingt die riesige Kriegsaxt mit einer unheimlichen Leichtigkeit. Langsam ziehen sich die beiden Halbelfen zurück. Aber der Stiermann will seine Beute nicht entkommen lassen. Er geht einen Schritt vor und greift an.

Der Mann taucht unter der Axt durch und stochert mit seinem Schwert nach ihm. Der Minotaurus lacht laut und schallend. Dabei geht er einen weiteren Schritt auf den jungen Halbelfen zu und hebt die Axt zu einem senkrechten Schlag von oben herab. Aber so unglaublich es sein mag, der zitternde Halbelf springt plötzlich vor und stößt zu. Ein überraschender Schmerz durchfährt den Minotaurus am Oberschenkel und unterbricht abrupt das Lachen. Er blickt zuerst auf sein blutendes Bein und dann auf den Jungen vor ihm. Dieser scheint noch überraschter zu sein wie er selber.

Der Minotaurus geht einen Schritt vor und das verletzte Bein gibt unter ihm nach. Die Axt fliegt weit davon und das Ungetüm schafft es gerade noch sich mit den Händen abzustützen bevor es mit dem Gesicht den Boden berührt.

Die Frau zerrt am Arm des Mannes und dieser stolpert zurück. Langsam bewegen sie sich weg von ihm. Er brüllt! Nein! Er versucht sich aufzurappeln, doch sein verletztes Bein trägt ihn nicht. Schon verschwinden die zwei zwischen den Bäumen. Endlich steht er. Er greift nach seiner Axt und verwendet sie als Stütze. Humpelnd macht er einen Schritt in Richtung Wald. Er will sie haben. Den Mann will er fressen und mit der Frau will er sich paaren. Und er wird ihr dabei Schmerzen zufügen, viele Schmerzen.

Sie sind mittlerweile schon so weit voraus, dass er sie nicht mehr hört.

Hören? Er hört gar nichts im Moment. Keine Vögel, kein Wind, nichts. Er schaut sich um und sieht den Schatten Am Rand der Bäume.

06

Keuchend und schwer atmend hielten die beiden bei einem kleinen Teich. Keine Geräusche verfolgten sie. Nur der Wald um sie herum sang. Vögel zwitscherten und Insekten umschwirrten sie. Es wurde langsam warm. Sie knieten beim Teich nieder und schöpften gierig mit ihren Händen Wasser, um es zu trinken. Der junge Mann schöpfte nur mit einer Hand. Mit der anderen hielt er noch immer das blutige Schwert.

Ganz langsam beruhigte sich ihre Atmung. Er stand auf und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. Erst da fiel ihm scheinbar das Blut auf dem Schwert auf und er kniete sich hin. Mit Grasbüscheln reinigte er das Schwert, während sie ihm zusah. Sie atmete noch schwer und saß am Teich. Ihre bloßen Füße hatte sie ins Wasser gelegt. Ihre Sohlen waren verschrammt, aber zum Glück hatte sie sich nichts eingetreten. Ihre Schuhe lagen noch dort wo das Monster sie angegriffen hatte.

„Woher kam der?“ fragt sie ihn. Der Junge zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich bin aufgewacht und sah ihn hinter dir stehen,“ erklärte er ihr. Dann fragte er: „Hast du ihn nicht bemerkt?“ Sie sah zur Seite aufs Wasser und meinte leise: „Ich war in Gedanken.“ Er nickte. Das kannte er von ihr bereits. Sie konnte stundenlang die Umgebung um sie herum vergessen, wenn sie in Gedanken war. Er konnte das nicht verstehen, denn er war immer neugierig auf seine Umgebung. Selbst wenn er so vertieft über etwas nachdenken hätte können, hätte er das nicht gewollt.

„Wohin gehen wir?“ fragte sie ihn. Wieder ein Schulterzucken von ihm. Endlich war ihm die Klinge sauber genug und er stand auf. „Ich habe keine Ahnung. Aber ich will aus dem Wald raus.“ Sie stimmte zu und er orientierte sich mit einem Blick zur Sonne. Dann schob er das Schwert unter den Gürtel und half ihr auf. Sie gingen Richtung Westen, weil dort der Wald enden musste und die Große Handelsstraße dort zu finden war. Einmal dort angekommen, könnte man über alles andere nachdenken.

Sie waren noch nicht lange gegangen, als sie bemerkten, dass das Vogelzwitschern sich verändert hatte. Es war nicht mehr das chaotische Durcheinander unterschiedlicher Vogelarten, sondern alle sangen, zwitscherten, fiepten und krähten im gleichen Rhythmus. Das war unheimlich und die beiden jungen Halbelfen begannen sich verängstigt umzusehen.

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Ein Rabengericht saß in einem Baum und blickte auf die beiden ängstlichen Leute herab.

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Der Rhythmus des Vogelgesangs wurde schneller. Die Vögel schienen sich im Rhythmus ihres Gesangs zu wiegen. Und sie schienen sich alle den Halbelfen zu nähern, ohne sich zu bewegen.

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Der Rhythmus wurde schneller. Sie waren umgeben von Hunderten Vögeln, die auf den Bäumen saßen. Diese umgaben sie wie Säulen in einem alten Tempel. Braune Stämme mit Ästen auf denen bunte kleine Vögel saßen. Sie waren auf einer kreisrunden Lichtung im Wald gefangen. Die Bäume standen so dicht, dass kein Ausweg zu sehen war.

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Sing-Sing-Krah. Fiep-Fiep-Krah

Noch schneller. Die Raben über ihnen begannen zu verschwimmen.

Sing-Sing-Fiep-Fiep
Sing-Sing-Fiep-Fiep
Sing-Sing-Fiep-Fiep

Und dann standen da plötzlich sechs dunkle Gestalten. Und alle Vögel verstummten auf einen schlag. Die Ruhe war genauso unheimlich wie der Gesang vorher. Die Stille tat fast weh, so unheimlich empfanden die beiden Halbelfen die Situation.
Die Wesen waren düster, hatten menschliche Gestalt und trugen lange weite schwarze Gewänder mit Kapuzen. Ihre Gesichter lagen im Schatten und waren nicht erkennbar.

Der junge Halbelf hatte das Schwert gezogen und zitternd richtete er es abwechselnd auf die sechs Gestalten. Mit der Linken hielt er die Frau hinter sich. Ihm selber war klar, dass auch hinter ihm diese Gestalten waren aber er wusste sich nicht zu helfen. Schweiß stand in dicken Perlen auf seiner Stirn.

„Lege die Waffe weg Tyrfinn vom Fluss.“ Eine krächzende Stimme kam unter den Kapuzen – allen Kapuzen – hervor.

07

Drei Tage waren sie nach Norden geritten, drei langweilige Tage. Doch endlich waren sie in Rimmerfurt angekommen. Die kleine Stadt drückte sich am Fuß des Rimmersberges in den Hang hinein. Die Stadt hatte keine Stadtmauer oder sonstige Verteidigungsanlagen. Um die Niederlassung herum sah man einige niedergebrannte Gebäude. Da der Ort fast ausschließlich aus Holzhäusern bestand, geschah es relativ oft, dass Teile oder gar die ganze Stadt niederbrannten. Aus diesem Grund waren die Gebäude auch nicht besonders schön oder gar gut gebaut. Eigentlich erinnerten sie mehr an einsame Holzfällerhütten, die jemand aus dem Wald geholt hat und hier nebeneinander abgestellt hatte.

So dachte zumindest Marton über seine Heimatstadt. Der große Krieger ritt mit gefesselten Handgelenken mitten unter seinen Gefährten und sah seiner Heimat überhaupt nicht erfreut entgegen. Hauptmann Ealfric war seit dem Überfall auf den Gasthof Brückenwacht übelster Laune. Und natürlich hat Martons Erzählung die Laune des Hauptmanns nicht verbessert. Aber aus irgendeinem Grund hat Ealfric den dunkelhaarigen Mann nicht gleich aufhängen lassen, sondern ihn nur fesseln lassen. Marton war nun ein Gefangener seiner eigenen Leute und wusste nicht welches Schicksal ihn erwartete. Zumindest hatten die anderen entweder genug Angst vor ihm oder waren seine Freunde. Aus welchem Grund auch immer, sie hatten ihn gut behandelt. Wenn er darüber nachdachte wie er selber schon Gefangene behandelt hatte, dann wurde er blass.

Die Reiter vom Roten Ealfric erreichten den „Hahn am Misthaufen“, das Gasthaus in dem Ealfric und seine Leute lebten. Auch wenn Ealfric sich von seinen Männern Hauptmann nennen ließ, so war er doch in der Stadt als der Rote Ealfric bekannt. Diesen Spitznamen haben ihm seine roten Haare und sein rotes Gesicht, wenn er wütend war eingebracht. In letzter Zeit war er oft wütend gewesen, was auch gut für seinen Namen war, denn allzu viele Haare hatte er nicht mehr am Kopf. Marton wurde vom Pferd gezerrt und in die Schankstube gebracht. Dort in einer Ecke sitzend musste er zuschauen wie seine Gefährten die Huren des Hauses begrüßten. Die Schankknechte brachten Bier und bald schon hatten die meisten Männer eine der Damen auf dem Schoß sitzen.

Erst Stunden später wurde Marton an Ealfrics Tisch geführt. Dieser hatte inzwischen mit allen möglichen Leuten aus der Stadt gesprochen, hatte gegessen und sogar ein Bad genommen. Nun saß er in seiner roten Uniformjacke an seinem Tisch und hielt mit der rechten einen Bierkrug. „Also Marton,“ sagte er in seiner ruhigen Stimme, „was soll ich mit dir anfangen?“ Marton zuckte mit den Achseln, denn er wusste, dass seine Meinung nicht gehört werden würde. Ealfric sprach weiter: „Du hast die beiden Halbelfen entkommen lassen, ihre Spur gefunden, sie verfolgt und wieder entkommen lassen. Und dabei hast du auch noch einen guten Mann verloren.“ Ealfric nahm einen langen Schluck aus dem Bierbecher und sprach dann kopfschüttelnd weiter: „Ich kann solches Versagen nicht dulden. Und ich kann dich natürlich nicht unbestraft lassen. Weil sonst würden alle nur mehr dann ihre Aufgaben erledigen, wenn sie gerade Lust dazu haben. Das wäre das totale Chaos. Ich werde morgen früh drei Leute nach den Halbelfen ausschicken, vorher aber wirst du gehängt werden.“

Mit einer Handbewegung winkte er Marton weg. Dieser war gerade noch dabei zu erfassen, was Ealfric da gerade gesagt hatte. Der Tonfall war so ruhig, so gleichgültig gewesen. Bevor er sich fassen konnte und irgendwas erwidern konnte, war er von zwei Männern schon rausgezerrt worden. Neben dem Gasthaus gab es einen kleinen Holzkäfig für Betrunkene und andere Störenfriede. Da hinein warfen ihn seine beiden Wächter. Endlich fand Marton seine Stimme wieder: „Lasst mich raus! Er kann mich doch nicht hängen! Ich bin an Kens Tod nicht schuld! Die beiden Halbelfen verrotten sicher schon im Alten Wald. Das wisst ihr ebenso wie ich!“ Die beiden Männer hatten die Tür verschlossen und die Kette vorgelegt. Der eine spielte mit dem Schlüssel und grinste Marton an. Dabei saugte er mit der Zunge in einer Zahnlücke. Der andere kannte Marton, konnte ihm aber nicht helfen. „Tut mir leid, Mann. Aber wenn der Hauptmann es befiehlt…“ Er ließ den Satz offen, aber Marton wusste was er meinte. Keiner widersetzte sich Ealfric. Der letzte der es versucht hatte, faulte immer noch im Käfig im alten Tempel. Die beiden Männer verließen ihn und Marton verfiel in eine sehr dunkle Laune.

Langsam wurde auch der Himmel dunkel. Immer wieder waren Leute vorbeigekommen. Die wenigsten waren stehen geblieben und hatten ihn angesehen. Nur zwei machten Scherze über den zum Tode Verurteilten. Martons düstere Blicke vertrieben aber auch diese beiden. Als es schließlich vollkommen dunkel war, begann im Wirtshaus das Abendgeschäft. Ein vor langer Zeit gefangener Barde spielte seine üblichen Lieder, die Mädchen kreischten, die Männer grölten und über allem lag der Geruch von Bier. Trotz seiner Sorgen und dunklen Gedanken und der Hoffnungslosigkeit seiner Situation schlief Marton ein. Ein Rasseln weckte ihn. Er sah nichts, doch um ihn herum war alles ruhig. Die Lichter im Gasthaus nebenan waren aus und der Mond stand hoch. Dann sah er doch etwas. Eine Gestalt machte sich am Schloss zu seinem Käfig zu schaffen.

„Psst,“ sagte die zierliche Person. Er erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte Alara, seiner Geliebten. Wenn man bei Huren von Geliebten sprechen konnte. Es klickte und das Schloss war offen. Sie steckte irgendwas in ihre Tasche und zog die Kette von der Tür. Rasch öffnete er die Tür und sie nahm seine Hand und zog ihn in eine Gasse. Noch ganz überrascht folgte er ihr einfach. Nach zwei Ecken blieb sie vor einem Pferd stehen.

„Ich will nicht, dass du hängst,“ erklärte sie einfach. Er verstand sie und nahm sie in die Arme. Als er sie küssen wollte drehte sie den Kopf weg und meinte „Dafür ist jetzt keine Zeit du großer Trottel. Los reite, fange die beiden Halbelfen und komm zurück. Dann darfst du mich so oft küssen wie du willst.“

„Ich soll in den Wald die beiden Gören jagen? Warum? Steig mit mir auf und wir verschwinden von hier.“ Doch sie schüttelte sofort den Kopf. „Ich kann, nein, ich will hier nicht weg, noch nicht. Und ja du musst die beiden finden und sie zum Roten bringen. Oder zumindest einen Anhänger, den die beiden vermutlich dabeihaben. Er soll aus Gold und Silber sein und eine Frau und einen Baum darstellen. Das ist es was er in Brückenwacht gesucht und nicht gefunden hat.“ Marton schaute sie fragend an: „Woher weißt du das alles?“ Sie lachte kurz auf: „Einer Hure erzählt man alles, wusstest du das nicht? Und jetzt schau nicht so blöd, sondern steig auf und reite davon. Bevor jemand bemerkt, dass der Käfig leer ist oder uns hier sieht.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen raschen Kuss auf die Wange. „Beeil dich,“ flüsterte sie, dann zog sie sich in die Gasse zurück.

Marton ließ keine weitere Zeit verstreichen. Er löste die Zügel vom Balken und warf sie dem Pferd über den Kopf. Dieses sah ihn nur an. Es war sein eigenes Tier und kannte ihn. Er stieg auf und ritt zügig Richtung Süden. Schon bald hatte er die Stadt hinter sich gelassen und ließ das Tier in einem stetigen Trab weiter nach Süden laufen.

08

Gerade ging die Sonne hinter den Bergen unter, da ritt er um die letzte Biegung in der Straße und sah die Stadt vor sich. Graue Steinhäuser, viele Kamine und eine dunkle Rauchwolke – nicht einmal das Licht der untergehenden Sonne konnte Eisenwacht etwas schönes geben. Marton war es egal, wie die Stadt aussah, er war nur froh angekommen zu sein. Vier Tage war es nun her, seit er Rimmerfurt spät in der Nacht verlassen hatte. In dieser Zeit hatte er durchgehend mit Verfolgern gerechnet, aber niemand hatte ihn eingeholt. Entweder war er wirklich gut vorangekommen oder niemand vermutete ihn auf dem Weg nach Eisenwacht. Obwohl das eigentlich die logischste Lösung war. Immerhin war Eisenwacht die einzige richtige Stadt nördlich der Shilta. Rimmerfurt war ja nur ne Ansammlung von Bruchbuden in der Diebe und Huren lebten und die anderen Orte nördlich des Flusses waren kleine Dörfer und Weiler. Also war es sinnvoll nach Eisenwacht zu reiten. Hier konnte er Arbeit finden und sich vor allem vor Ealfric verstecken.

Er hatte auf dem Ritt aus Rimmerfurt heraus und dann den ganzen nächsten Tag lange überlegt wohin er nun reiten sollte. Als er an einer Weggabelung angekommen war, traf er spontan die Entscheidung nach Eisenwacht zu reiten. Sollten die beiden Halbelfen doch im Wald verrotten! Er wollte mit dem Wald nichts zu tun haben.

Schließlich führte der Gebirgspfad auf dem er die letzten zwei Tage unterwegs gewesen war auf die Große Handelsstraße und hinein in die Stadt. Aus der Nähe sah Eisenwacht nicht besser aus. Wegen den vielen Steinhäusern und den Schmelzöfen und Schmieden war die Stadt nur grau und schwarz vom Ruß. Eisenwacht war eine Minensiedlung gewesen bis vor einigen Jahren der König über den Fluss kam und die Gebiete zwischen der Shilta und den Hohen Klüften für sich beanspruchte. Niemand leistete ihm besondere Gegenwehr, aber es gab in der Gegend auch niemanden. Nur die zwergischen Minenmeister von Eisenwacht hätten sich wehren können, doch die witterten gute Geschäfte und waren schon vor dem Feldzug bestochen worden. Somit blieben nur noch einige Bauern ohne Führung. Der König kam und die Bauern verneigten sich. Und Eisenwacht wurde die nördlichste Stadt des Königreichs. Es wurde sogar die Große Handelsstraße verlängert. Während diese vor 30 Jahren noch bei Brückenwacht am Shilta endete, so zog sie sich jetzt die 200 km bis Eisenwacht hinauf in die Berge.

Diese Umstände sorgten dafür, dass Eisenwacht in den letzten 30 Jahren stark gewachsen war und jetzt eine richtig große Stadt mit Tausenden Einwohnern war. Und genau zwischen diesen Tausenden wollte Marton verschwinden. Er hielt sein Pferd vor der Schenke „Minenteufel“ an und stieg ab. Langsam führte er sein Pferd von der Hauptstraße ab und hinter das Gasthaus. Dort war die offene Stalltür und ein Knecht stand dort. Er sah zu Marton hinauf, der ihn um einen Kopf überragte und spuckte aus. „Kostet ein Silber pro Tag.“ Marton griff in seine Tasche, zog eine Silbermünze und drei Kupfermünzen heraus und meinte: „Versorg sie gut und striegel sie.“ Der Stallknecht nahm das Geld und nickte. Marton überreichte ihm die Zügel. Dann nahm er die Satteltaschen vom Rücken des Tiers und ging durch den Hintereingang in das Wirtshaus.

Es war ruhig. Die Leute waren noch bei der Arbeit, aber das würde sich bald ändern. Hinter dem Tresen stand ein schmutziger und sehr dicker Mann. Marton ging auf ihn zu und meinte ohne Begrüßung, dass er ein Zimmer für die Nacht wollte. Höflichkeiten waren an diesem Ort  verschwendet. „Zwei Silber pro Nacht.“ Marton legte ihm die beiden Münzen auf den Tisch und bekam dafür einen Schlüssel mit einer eingravierten Nummer. Diese Nummer bestand aus drei senkrechten Strichen. Marton nickte und ging die Treppe nach oben. Er war schon öfter im Minenteufel gewesen und kannte sich aus. Sein Zimmer erkannte er an den drei Kratzern an der Tür, die den Strichen am Schlüssel glichen. Er betrat das Zimmer, jagte eine Ratte davon und legte sich dann auf den muffigen Strohsack. Er schlief sofort ein.

Lärm weckte ihn. Er sprang hoch und zog seinen Dolch. Er war allein im Zimmer. Durch die geschlossenen Fensterläden drang ein einziger Strahl Mondlicht. Aber dieser Strahl reichte für dieses kleine Zimmer. Niemand war da und der Lärm kam von unten aus der Schankstube. Da sangen einige ein bekanntes Sauflied.

Er war wohl so müde gewesen, dass er sofort eingeschlafen war. Er entschied etwas essen zu gehen bevor er sich überlegte wie es weitergehen sollte. Im Schankraum war jetzt viel los, denn die Minenarbeiter und Schmelzer und Eisenbieger und Schmiede hatten Feierabend. Keiner beachtete Marton, außer natürlich die Huren. Er fand einen Platz an einem langen Tisch. Die anderen am Tisch bedachten ihn mit einem kurzen Blick und kümmerten sich dann wieder um ihr eigenes Zeug. Das war die Höflichkeit in Eisenwacht. Jeder kümmerte sich um seinen Kram und mischte sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein.

Während der große Ex-Räuber auf sein Essen wartete, hörte er den Gesprächen im Raum zu. Ein- oder zweimal fragte er sogar nach und spendierte einem sehr gesprächigen Schmelzergesellen ein Bier für die vielen Neuigkeiten. So erfuhr er beim Essen von Hackbraten und Kartoffeln, dass der König nach Ealfric suchte. Die Männer des Königs hatten wohl eine Verbindung zwischen der Brandschatzung von Brückenwacht und dem Räuberhauptmann gefunden. Das bedeutete aber auch, dass Rimmerfurt bald von Soldaten überflutet werden würde. Der Schmelzer meinte, dass Truppen aus Eisenwacht am Tag vorher losgezogen waren. Marton hatte Glück gehabt, dass er den Passweg genommen hatte und nicht den Handelsweg. Als er seinen Tischnachbarn nach möglichen Arbeiten fragte meinte dieser, dass er in der Mine immer Arbeit finden könnte. Marton verzog das Gesicht und der Schmelzer lachte auf: „Bist dir wohl zu gut, um unter Tage zu arbeiten, häh? Aber wenn du noch ein Bier ausgibst, dann fällt mir da vielleicht auch noch was anderes ein.“

Am nächsten Morgen saß Marton auf seinem Pferd und verließ Eisenwacht Richtung Süden. Er war nicht allein und das Bier hatte sich gelohnt. =

llte er wirklich in den Alten Wald und die Halbelfen suchen?